Das schweigende Mädchen

Der rechtsextremistischen Gruppierung NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) werden bis heute zehn Morde, zahlreiche Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle zur Last gelegt. In der Dortmunder Mallinckrodtstraße erschossen die Täter am 4. April 2006 den Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık. Entgegen anderslautender Zeugenaussagen vermuteten die ermittelnden Behörden die Täter lange im Drogenmilieu – das ist eine von zahlreichen Ungereimtheiten, nicht nur in Dortmund. Nach der Verhaftung von Beate Zschäpe am 8. November 2011 und den vorangegangenen Suiziden der NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt werden vier Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Denn allzu ungereimt erscheint heute die Rolle diverser Organe des Staats- und Verfassungsschutzes, die das NSU-Trio jahrelang überwachten – bis hin zur mutmaßlich absichtlichen Vernichtung von Beweismaterial: Zufall, Dummheit, Versehen oder Vorsatz? Seit Mai 2013 stand Beate Zschäpe im Münchner NSU-Prozess vor Gericht – doch die Hauptangeklagte schwieg zu allen Tatvorwürfen. Um dieses verhärtete Nichts, das ausufernden Spekulationen Raum gibt, fließt Elfriede Jelineks mäandernder Gedankenstrom – ein unendliches Sprechen. Die Nobelpreisträgerin fächert wie unter einem Kaleidoskop das Thema der Schuld auf, sucht die Lücke zu füllen und das beharrliche Schweigen zu vertreiben. Michael Simon, 1994 mit seiner Dortmunder Inszenierung The Black Rider zum Berliner Theatertreffen eingeladen, setzte den assoziativen und fließenden Text im Januar 2016 mit sechs Schauspielern des Ensembles und dem Dortmunder Sprechchor in Szene. Der Prozess gegen Beate Zschäpe ist zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlossen: Erst am 11. Juli 2018 verurteilt das Gericht Beate Zschäpe wegen Mordes, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und schwerer Brandstiftung zu lebenslanger Haft und stellt die besondere Schwere der Schuld fest. 

star
Mit: Frank Genser, Marlena Keil, Bettina Lieder, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, Merle Wasmuth und dem Dortmunder Sprechchor
Regie und Bühne: Michael Simon
Regiemitarbeit: Ariane Andereggen
Bühne und Kostüme: Mona Ulrich
Musik/Komposition: Tommy Finke
Dramaturgie: Michael Eickhoff
Regieassistenz: Wiebke Rüter